Brief an die Bundesversammlung der Schweizer Feministischer Streikkollektive. Übergeben am 14.12.2020 in Bern.
«Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesversammlung,
zornig haben die Kollektive des feministischen Streiks und des Frauenstreiks den Beschluss der Ständeratskommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit zur Kenntnis genommen, die Erhöhung des Pensionsalters der Frauen in die Reform AHV 21 aufzunehmen. Wahrscheinlich wird dieser Beschluss vom Gesamtständerat gutgeheissen werden. Die Reform AHV 21 war bereits vor der Corona-Krise nicht annehmbar und sie ist es heute umso weniger angesichts unserer Position in dieser Pandemie: Wir stehen an vorderster Front. Wir arbeiten in jenen Berufen, die der Ansteckungsgefahr durch das Virus besonders ausgeliefert sind : die Pflegeberufe, die Reinigungs- und Verkaufsberufe ebenso wie jene der Kinderbetreuung. Hinzu kommt die körperliche und geistige Belastung durch den Haushalt, die erzieherischen und pflegerischen Aufgaben in der Familie. Diese Arbeiten fallen zum grössten Teil uns zu und haben sich seit Beginn der Pandemie und für die kommenden Monate noch vermehrt.
Der Mangel an Anerkennung für diese Arbeiten, die während der Corona-Krise festzustellen war – abgesehen von den rein symbolischen Ehrungen zu Beginn – bestätigt lediglich, dass es mehr als genug Ursachen gab, am 14.Juni 2019 in Streik zu treten. Unter den 19 Gründen, die unser Manifest anführte, war die Zurückweisung einer verlängerten Arbeitsphase verankert : « Wir lehnen die Erhöhung des Pensionsalters für Frauen ab, weil wir während unseres ganzen Arbeitslebens diskriminiert sind. Wir verlangen Sozialversicherungen, die unseren Bedürfnissen und unserer Wirklichkeit Rechnung tragen – gerade in der Altersvorsorge » (Manifest des feministischen Frauenstreiks).
Bestärkt durch den nationalen Streik – der von historischer Dimension war – und gestützt auf den Mehrheitswillen der Wählerschaft, die zweimal, 2004 und 2017, Reformen verwarf, die ebenfalls die Erhöhung des Rentenalters der Frauen forderten, verlangen wir heute von Ihnen, auf die AHV 21-Reform zu verzichten. Diese „Reform“ muss aufgegeben werden, wie das schon bei der 11. AHV-Revision 2010 – mit demselben Ansatz – nötig war. AHV 21 ist nicht die Reform, die wir benötigen. Im Gegensatz brauchen wir eine Reform, die :
- die Dringlichkeit erkennt, die Renten der 1.Säule zu verbessern, damit sie den Lebensbedarf angemessen decken – was heute bei weitem nicht der Fall ist.
- den Wert der häuslichen Arbeit, der erzieherischen und pflegerischen Arbeit anerkennt, indem sie den Mechanismus des Bonus erweitert.
- die AHV stärkt durch vermehrte finanzielle Mittel sowohl über die ordentlichen Beiträge als durch einen erhöhten Zuschuss des Bundes mittels der Gewinne der Nationalbank oder der Besteuerung von Dividenden.
Auf Anhieb würde eine Abschaffung der als « unerklärlich » taxierten Lohndiskriminierung genügen, um die errechneten Ersparnisse aufgrund der Beitragserhöhung mit der AHV 21 auszugleichen. Selbst der Bundesrat erklärte, dass ein Anstieg der paritätiscen Beiträge um 0,3 % genügen würde, um dieselbe Äufnung zu bewirken wie jene, die von der Anhebung des Frauenrentenalters erwartet wird. Eine generelle Erhöhung der paritätischen Beiträge um 0,9 % würde gar das Total der Neuzuflüsse ausgleichen, welche im Projekt AHV 21 vorgesehen sind. Bei einem Lohn von Fr. 5000.- sind das Fr. 45.- im Monat – teilbar zwischen ArbeitgeberIn und Angestellter /Angestelltem.
Die Anhebung des Frauenrentenalters betrifft alle. Es ist der Dammbruch, der in der Folge auch erlaubt, allen die Lohnarbeit bis zum Alter von 66 oder 67 Jahren oder mehr vorzuschreiben. Diese Massnahme trifft jedoch besonders jene, welche die schwierigsten Arbeitsbedingungen haben: Sie, die Lohnarbeit und Hausarbeit kombinieren müssen, als alleinerziehende Mütter von Kindern; sie, die in prekären, schlecht bezahlten Anstellungen überleben, Mühe haben, am Monatsende über die Runden zu kommen und sich körperlich und geistig erschöpfen; sie, die mit 50 Jahren oder älter langzeit-arbeitslos wurden oder sie, die mit einer miserablen Rente überleben, nachdem sie ein ganzes Leben lang gearbeitet und Kinder aufgezogen haben. Im Gegensatz dazu sind es die reicheren Männer, die mit 60 vorzeitig in Rente gehen, die Hälfte von ihnen mit Pensionen von Fr. 5000.- oder mehr, die uns vorschreiben wollen, dass wir länger arbeiten sollen. Das ist nicht nur eine Zumutung sondern auch absolut zynisch.
Wir sind immer noch schlechter bezahlt als die Männer. Unsere Lohnabrechnungen zeigen im Schnitt eine um 32 % geringere Vergütung auf, und zur Lohndiskriminierung hinzu kommt die Teilzeit, die unbezahlte Arbeit zugunsten der Familien und die tiefere Bewertung von Berufen, in denen hauptsächlich Frauen tätig sind. Die Einkommenslücken vieler Frauen kumulieren sich und üben eine ungünstige Wirkung auf die Pensionen aus. Gesamthaft gesehen erhalten wir heute Renten, die um 37 % unter denen der Männer liegen. Diese Ungleichheit geht speziell auf die 2.Säule zurück, wo die Differenz zwischen den Geschlechtern bei 63 % liegt. Darüber hinaus hatten 2018 44 % der neu Pensionierten keine 2.Säule.
Es wird Zeit, zuzugeben, dass das 3-Säulen-System nicht mehr funktioniert. Was wir brauchen ist nicht, länger arbeiten zu müssen, sondern ausreichende und würdige Renten geniessen zu können.
AHV 21 gibt überhaupt keine Antwort auf diese unhaltbare Situation flagranter, andauernder Ungleichheit, indem sie ein zusätzliches Arbeitsjahr durchsetzen will. Deshalb wiederholen wir unermüdlich unsere Forderung, davon endlich abzulassen zugunsten einer Reform, welche ein egalitäres, solidarisches und nachhaltiges Modell der Altersvorsorge schafft.
Die Kollektive des Frauen*streiks/feministischen Streiks